80 Jahre Motorschiff "Thurgau"

Das Motorschiff "Thurgau" zählt zusammen mit seinem um ein Jahr jüngeren Schwesterschiff "Zürich" zu den klassischen Repräsentanten des beginnenden Dieselzeitalters auf dem Bodensee.  Als erste, größere Motorschiffe der Gesamtschweiz, läuteten die beiden  Romanshorner "Zwillinge" den Beginn einer neuen Epoche im flächenmäßig größten Bodenseehafen ein.

Im Jahre 1930 beschlossen die damaligen Schweizerischen Bundesbahnen ihre Flotte nach deutschem und österreichischem Vorbild zu modernisieren. Die Kesselanlagen der damals ältesten Dampfschiffe "Helvetia" (1887) und "Säntis" (1892) waren erneuerungsbedürftig, außerdem entsprachen diese beiden Halbsalonschiffe nicht mehr den Ansprüchen einer sich seit dem Ende des Ersten Weltkrieges geänderten Reisekultur. Erste Vorstudien sahen zunächst den Bau von zwei mittelgroßen Motorschiffen nach dem Baumuster des in Konstanz stationierten Typs "Höri"/"Mainau" mit einem Fassungsvermögen von je 300 Personen vor.  Die Kreisdirektion III der Schweizerischen Bundesbahnen in Zürich, erkannte jedoch rasch, dass sich solche Schiffe für den Überlingersee, nicht jedoch für einen ganzjährigen Verkehr auf dem erheblich sturmgefährdeteren Obersee eigneten. So entstand nach eingehenden Planstudien auf der Bodanwerft in Kressbronn ein neuer Typ von Zweideck-Motorschiffen, der sich in verkleinerter Ausführung an das 1929 in Dienst gestellte, bayerische Großmotorschiff "Allgäu" orientierte. Gleichzeitig wurde auch beschlossen, die beiden jüngsten Dampfschiffe "Rhein" (1906) und "St. Gallen" (1905) in neuzeitliche Salondampfer umzubauen. Diese Umbauarbeiten wurden ebenfalls von der Bodanwerft ausgeführt und dienten als Musterbeispiel für die spätere Modernisierung der württembergischen Dampfschiffe "Hohentwiel" und "Friedrichshafen".

Am 10. Mai 1932 erfolgte die Indienststellung der "Thurgau". Die Jungfernfahrt führte quer über den See bis in Höhe Friedrichshafen und entlang des deutschen Ufers über die Bregenzer Bucht zurück nach Romanshorn. Gemeinsam mit dem Dampfschiff  "St. Gotthard", wurde die "Thurgau" von Anfang an der Querverbindung nach Friedrichshafen zugeteilt. Der Bruch eines Radarmes während einer Sonderfahrt nach Lindau, beendete am 21. August 1932 vorzeitig die Laufbahn der zum Jahresende vorgesehenen Stillegung des Dampfschiffes "Helvetia". Der 1887 in Dienst gestellte Dampfer mit seinem elegant geschwungenen Clippersteven wurde vollständig ausgeschlachtet und am 27. Oktober im "Tiefen Schweb", dem 200-Meter-Graben im Obersee versenkt. Dasselbe Schicksal ereilte im Mai 1933 nach Indienststellung des Schwesterschiffes "Zürich" auch den 41 Jahre gewordenen Dampfer "Säntis". Nach Indienststellung der beiden Motorschiffe,  gingen auch die Fahrleistungen der  Dampfschiffe "St. Gallen" und "Rhein" drastisch zurück. Beide Dampfer verkehrten von nun an überwiegend im Sommerhalbjahr und wurden vorzugsweise für  Sonder- und Ausflugsfahrten eingesetzt.

Obwohl nur für 450 Fahrgäste zugelassen, beeindruckten beide Schiffe durch ihre betont maritim wirkenden Proportionen. Auf dem Hauptdeck befanden sich achtern der Fahrgastraum und  vorne der Speisesaal 2. Klasse. Das verhältnismäßig lange Vorschiffsdeck war damals noch zum Transport von Fracht- und Stückgütern vorgesehen. Das Oberdeck war ausschließlich der I. Klasse mit Aufenthaltsraum und einem kleinen Speisesaal vorbehalten.  Auf dem für die Passagiere nicht zugänglichen Brückendeck befanden sich ein geräumiges Steuerhaus, an das sich ein kleines Stiegenhaus und der markante Kamin anschlossen, der diesen beiden Schiffen eine unverkennbare Charakteristik verlieh. Zu beiden Seiten des Brückendecks war nach dem Vorbild der "Allgäu" je ein Rettungsboot angeordnet, die durch zwei kippbare Davits ausgeschwenkt werden konnten.  Zwei imposant emporragende Großmasten auf dem Hauptdeck vervollständigten die ausgewogene Silhouette der beiden Schiffe. Während die Rahe des vorderen Mastes als Signalträger diente, wurde die Nationalflagge an der Gaffel des achteren Großmastes geführt. Zwei Sulzer-Zweitakt-Dieselmotoren mit einer Leistung von je 240 PS trieben die beiden vierflügeligen Doppelschrauben, Fabrikat Zeise an und verliehen den Schiffen eine Höchstgeschwindigkeit von 25,4 km/h.

Von einem unbeschwerten Fahrgastvergnügen nach heutigen Maßstäben zwischen Deutschland und der Schweiz, konnte spätestens ab 1938 keine Rede mehr sein. Besonders in Friedrichshafen und Lindau waren die Passagiere strengen deutschen Grenzkontrollen ausgesetzt, was sich bald erheblich auf die Reiselust im internationalen Querverkehr auswirkte. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden diese Verbindungen bald nur noch von Transitreisenden oder Berufspendlern frequentiert. Zeitgenössische Fotos und Ansichtskarten mit Begegnungen der vollbesetzten neuen deutschen Dreideck-Motorschiffe und den nur spärlich frequentierten Romanshorner Schiffen, hinterlassen selbst heute noch einen deprimierenden Eindruck. Außerdem galten für die deutschen Passagiere rigorose Devisenbeschränkungen. Analog zu den schwarz-weiß-roten Schornsteinringen der deutschen Bodenseeschiffe, erhielten die beiden Romanshorner Schwestern im Jahre 1936 ein breites, rotes Schornsteinband mit dem weißen, eidgenössischen Kreuz, das bis zum Umbau 1959/60 ein charakteristisches Markenzeichen dieser Schiffe bildete. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mussten auch in der Schweiz nicht nur die Kohlen, sondern  auch der Dieseltreibstoff rationiert werden. Vorläufig wurde noch ein bescheidener Querverkehr aufrecht erhalten, bis er am 4. Juni 1940 endgültig eingestellt wurde. Eine indirekte Folge war die Ausmusterung des durch den Kriegsausbruch beschäftigungslos gewordenen Dampfschiffes "St. Gotthard", das in den Jahren 1943/44 verschrottet wurde. Nur die Dampfschiffe "Rhein" und "St. Gallen" hielten bis zum Sommer 1944 noch einen spärlichen Ausflugsverkehr zwischen Romanshorn und Rorschach aufrecht. Nach der Bombennacht vom 28. April 1944 sollen sich nach Aussagen mehrer Zeitzeugen aus Friedrichshafen beide Dampfer vollbesetzt und auf bedrohlich naher Distanz der fast nur noch aus Ruinen bestehenden Stadt genähert haben. Erst die akute Gefahr der nun auch am Tage auftauchenden alliierten Flugzeuge, bereitete diesem mutmaßlichen "Katastrophentourismus" ein rasches Ende.

Nach Kriegsende war es die "Thurgau", die am 12. September 1946 als erstes Schiff aus der Schweiz das zu 70 Prozent zerstörte Friedrichshafen anlief, wo sich Verwandte und Bekannte nach siebenjähriger Trennung wieder in die Arme schließen konnten. Unvergessen sind auch heute noch die Fahrten mit bedürftigen Kindern aus dem zerbombten Friedrichshafen und aus Langenargen, die auf Initiative der Kirchengemeinden am deutschen und am schweizerischen Ufer zu einem mehrtägigen Aufenthalt von Gastfamilien im Kanton Thurgau aufgenommen wurden. Für diese Fahrten wurden neben den beiden Motorschiffen auch das Dampfschiff "Rhein" eingesetzt. Alleine schon die tadellose Inneneinrichtung der Schweizer Schiffe überwältigte damals die jungen Fahrgäste, die zum ersten Mal wieder ohne Angst vor Fliegerangriffen eines dieser damals aus deutscher Sicht ungewohnt gepflegten Schiffe betreten durften.

Als am 15. Mai 1949 der Personenverkehr zwischen Deutschland und der Schweiz offiziell eröffnet werden konnte, übernahm die "Thurgau" nach fast zehnjähriger Unterbrechung von Anfang an wieder ihre alte Stammrolle im Querverkehr nach Friedrichshafen. Zur besseren Unterscheidung mit dem Schwesterschiff "Zürich" wurde im Jahre 1957 der Kaminoberteil zwischen Hoheitszeichen und Abschluss in dem grünen Farbton des Kantons Thurgau gestrichen.

Im Jahre 1956 erhielt die Romanshorner Flotte einen Zuwachs durch das mittelgroße Motorschiff "Säntis" und hatte damit für vier Jahre wieder den Vorkriegs-Flottenbestand erreicht. Die sich im Verlaufe der 50er Jahre ändernden ästhetischen Aspekte im Schiffbau führten 1959 zu einer grundlegenden Modernisierung der beiden Schwesterschiffe aus den 30er Jahren. Nach Saisonschluss 1958 war als erste die "Thurgau" an der Reihe. Auf der Kressbronner Bodanwerft erhielt das Schiff einen ausfallenden Vordersteven und ein neues Brückendeck. Der bisher markante Kamin und die Rettungsboote verschwanden zugunsten einer neuartigen Kombination von Steuerhaus und  Kaminatrappe. Das Oberdeck wurde nach achtern um zwei Meter verlängert. Zwei neue Viertakt-Dieselmotoren der Lokomotivfabrik Winterthur mit einer Leistung von 2 x 300 PS ersetzten die ursprünglichen Sulzer-Motoren. Die zulässige Personenzahl konnte von ursprünglich 450 auf 500 Fahrgäste erhöht werden. Als die "Thurgau" im Mai 1959 zum ersten Mal wieder am deutschen Ufer vor Meersburg und der Insel Mainau aufkreuzte, war das Schiff  auf den ersten Blick kaum mehr wieder zu erkennen. Im darauf folgenden Winterhalbjahr wurde nach identischen Vorgaben auch die "Zürich" modernisiert.  Stagnierende Frequenzen führten 1960 zur Ausmusterung des Dampfschiffes "St. Gallen", wodurch die Flotte wieder auf vier Fahrgastschiffe reduziert wurde. Im Herbst 1966 verabschiedete sich als letztes Dampfschiff auf dem Obersee auch der Dampfer "Rhein". Als Ersatzschiff wurde im Mai 1967 die "St. Gallen" in Dienst gestellt. Welche  Attraktion eine Erhaltung des letzten SBB- Dampfers für die gesamte Region der Nordostschweiz bedeutet hätte, muss aus heutiger Sicht nicht länger umschrieben werden.  Während die "Thurgau" ab 1976 immer mehr in den Ausflugsverkehr mit eingebunden wurde, blieb das Schwesterschiff "Zürich" noch lange Zeit ihrer Stammrolle im Querverkehr nach Lindau zugeteilt. Im Jahre 1991 wurden die Fahrgasträume der "Thurgau" in einer ansprechenden und rustikalen Art neu gestaltet.  Nach der Umwandlung der ehemaligen SBB-Flotte in  die private Schweizerische Bodensee-Schifffahrts-Gesellschaft im Jahre 1996, wurde das bisherige Ausflugsfahrten-Programm weiter ausgebaut. Über das Sommerhalbjahr führen nun schon seit Jahren tägliche Kursfahrten von Rorschach und Romanshorn über die Insel Mainau nach Unteruhldingen und Meersburg, was besonders von den deutschen Individualurlaubern begrüßt wurde. Mit der "Thurgau" oder der "Zürich" kann seit Jahren von den Stationen Unteruhldingen oder Meersburg eine ausgedehnte Oberseekreuzfahrt unternommen werden. Die Route führt entlang des Schweizerufers über Rorschach und von dort quer über den See nach Wasserburg und kann von dort nach kurzem Aufenthalt in der Regel mit der "Karlsruhe" am deutschen Ufer fortgesetzt werden. Unverkennbar bleibt auch eine enge "Verwandtschaft" der Jubilarin und seines Schwesterschiffes mit der 1935 als erstes Dreideck-Motorschiff in Dienst gestellten "Baden". Mögen die beiden jung gebliebenen und rustikalen Schiffe mit ihrer unverkennbaren Charakteristik dem Bodenseeverkehr noch über viele Jahre erhalten bleiben.

(Karl F. Fritz Winter 2011/2012)

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